Montag, 17. Januar 2011

Die Frau, die nahm

"Gib mir etwas!" Sie streckte ihm ihre linke Hand entgegen, rau, rissig, aber durchaus sauber. Er sah erst auf die Hand, dann in ihr Gesicht.
"Was soll ich dir geben?" fragte er schließlich, als das Schweigen zwischen ihnen unangenehme Formen annahm. Zu spät fiel ihm auf, dass er sie geduzt hatte. Eine derart intime Anrede war der Nährboden für Vertraulichkeiten. Sein Herz schlug schneller. Hoffentlich war es ihr nicht aufgefallen.
"Was du willst.", antwortete sie unbeeindruckt. "Aber ich werde hier nicht mit leerer Hand weggehen."
Er stutzte. Hieß es nicht anders? Er musterte sie von Kopf bis Fuß und zurück und blieb schließlich mit dem Blick an ihrem rechten Armstumpf hängen. Sie hatte Recht in dem Sinne, dass sie nur über eine Hand verfügte. Die war schnell gefüllt, egal, was man hinein tat. Er klopfte seine Taschen ab. Er fand: einen Streifen Kaugummi, den blauen, mit dem man so großen Blasen machen konnte. Den durfte er nicht weggeben, er war für seinen Sohn bestimmt und gehörte ihm somit schon nicht mehr. Er fand: einen Knopf. Einen abgestempelten Tramfahrschein. Eine zerknüllte Apothekenquittung. Was wollte die Frau nur? Je länger er in seinen Taschen herumwühlte, desto fahriger wurde er. Zu gern hätte er einfach zu seiner Börse gegriffen und ihr ein paar Münzen auf den Handteller geworfen, aber das wäre gegen ihren Willen, den sie in großen roten Buchstaben vor ihrer Brust zur Schau trug. 'Kein Geld, Senhores!' Wäre er doch nur weitergegangen, eingereiht in den Strom der Menschen, die von ihrer Arbeit nach Hause strebten, untergegangen in der breiten Masse, gesichtslos, geruchslos, spurlos verschwunden im Körpermeer. Aber er hatte den Kopf gehoben als er aus der U-Bahnstation gekrochen war, hatte sich umgesehen, war ihr in die Querer gekommen. Und sie - sie hatte ihn wahrgenommen. Als Einzelnen.
"Gibst du mir etwas?" Sie tappte mit dem Fuß auf den Boden. "Wir haben nicht mehr viel Zeit."
"Aber ich habe doch nichts!" er kam sich verlogen und von aller Welt verlassen vor, beides zugleich.
Da lächelte sie auf einmal. "Das stimmt nicht. Greife in deine linke Hemdtasche und gib mir das, was du dort als erstes findest. Nur zu!"
"Aber wenn es nur ein Fetzen Papier ist?"
"Dann hast du trotzdem mehr gegeben als alle vor dir." Ihr Lächeln verblasste, spannte sich pergamenten über schmal gewordene Lippen. Man sah ihr für einen Moment an, dass sie noch nicht allzuviel Erfahrung hatte, in dem was sie tat.
Er stieß die Luft aus, die er in den letzten Minuten unwillkürlich angehalten hatte. Dann griff er sich wie befohlen in besagte Tasche und stutzte. Seine Finger glitten über kühles Metall. Der Füller seines Vaters. er hatte ihn heute Morgen eingesteckt, in Gedanken. Er hatte an den Vertrag gedacht, den er damit hatte unterzeichnen wollen. Den Vertrag. Diesen einen, wichtigen. Nun hatte er getan, was so wichtig erschienen war und fühlte sich trotzdem nicht anders als in der Nacht, in der er eines ungehörigen Dranges wegen das Klosett aufsuchen musste, der Erleichterung willen. Seines Vaters Füller. Goldene Feder. Schildpattinlays im Griff. Erleichterung durchflutete ihn. Er sah die Frau an und lächelte. "Hier, bitte!"
Die Frau schloß die Finger um das alte Schreibgerät. Dann sah sie auf die Uhr, nickte ihm zu und ging ihres Weges.
Er machte sich auf den Heimweg, an seinen Vater denkend. Nach ein paar Schritten waren die Probleme vergessen, die zwischen ihnen geherrscht hatten. Nach weiteren Metern verblasste das Bild des Vaters selber. Als er zu Hause ankam, war er sich nicht mehr bewusst, jemals einen Vater gehabt zu haben.
Irgendwo, in den Tiefen der Stadt, lächelte die Frau, die nahm.

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